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Ich laufe. Ich fahre Fahrrad. Und ich gehe spazieren.
Egal was ich tue, es wird zunehmend „aggro“.
Ich brauche frische Luft wie mein tägliches Brot.
Und so genieße ich es nach längerem Stuben hocken oder auch vor intensiven Ereignissen durch das herrliche Grün der Felder zu rauschen und tief durchzuatmen, den Sauerstoff in meinen Gliedmaßen zu fühlen und Kraft zu tanken für das, was ich mein Leben nenne.
Ich liebe mein Leben. Ich liebe Menschen, die Begegnung mit ihnen, weil sie mich weiterbringen. Immer. Näher zu dem, wo ich irgendwann mal sein will, weil ich im Hier-und-Jetzt – bei aller Liebe, immer mal wieder zweifle am Guten im Menschen, den ich so sehr liebe und der ich selbst bin.

Es häuft sich in letzter Zeit: das aggressive Verhalten. Letztens auf dem Weg zur Arbeit rolle ich entspannt durch das Naturschutzgebiet auf ein Dreiergrüppchen zu. Eine Dame besticht ihre zwei Vierbeiner mit Hundekuchen, damit sie mir nicht vor die Reifen springen. Ich konzentriere mich darauf, keinen der drei zu überfahren und versäume zu grüßen. Kaum bin ich unfallfrei vorbei, wird die Dame zur Furie und ruft hinter mir her: „Gern geschehen!“ Innerhalb von tausendstel Sekunden bin ich auf hundertachtzig. Man lernt immer dazu.
Ich lerne eine abgrundtiefe Seite in mir kennen, die in meinem Inneren Worte formuliert, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass ich sie denken könnte. Wie ordinär kann Frau werden, wenn sie auf einem Drahtesel durch die morgendliche Landschaft zuckelt?
Völlig konsterniert und doch einigermaßen hochdeutsch frage ich im Weiterfahren, wie man nur so auf Krawall gebürstet sein kann. Sie fühlt sich dadurch zu weiterem Krawall animiert. Ich beschließe dem Aufruhr in mir ein Ende zu bereiten, indem ich umkehre, um mit ihr ein paar freundliche Worte zu wechseln, worauf sie mir antwortet, ich solle jetzt nicht so tun, als habe ich ein besonderes Karma, oder so. Sie hat mich durchschaut: ich bin nur ein normaler Mensch, der gerade schwer damit zu tun hat, besonders ordinäre Worte hinunterzuschlucken. Fassungslos fahre ich weiter. Die Freundlichkeit der Menschen an meinem Arbeitsplatz rettet mich: Ja – ich liebe Menschen!

Drei Tage später, am heiligen Sonntag, die nächste Eskalation: Ein älteres Ehepaar, ein verwaister Hund und ich. Wir erschrecken uns, keiner kann wirklich etwas dafür, außer dem Hundebesitzer vielleicht, aber der ist weit weg. Bevor die ältere Dame ihrer Entrüstung freien Lauf lassen kann, unterbreche ich meinen eigenen und zwänge ihr ein positives Gespräch auf. Ich möchte es so gerne verstehen: Warum sind die Menschen so aggro? Das ist einfach nicht mehr lustig! „Irgendetwas fehlt den Menschen heute“, sagt die Frau und schüttelt traurig den Kopf über den Verlust einer nicht bewussten Angelegenheit. „Was fehlt den Menschen nur?“
Wir tauschen noch ein paar Nettigkeiten aus gegen den Schrecken, dann laufe ich weiter, ihre Frage zum Rhythmus meiner schweren Schritte bewegend.
Je länger ich darüber nachdenke, umso lächerlich einfacher erscheint mir die Antwort: Es fehlt an Liebe!

Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe in vielen erkalten. (Mt. 24, 12)
Ich bin ein Weltmeister im Glauben. Und je mehr mir der Glauben an das Gute im Menschen abhandenkommt, umso mehr setze ich auf die höhere Instanz. Ich brauche eine feste Größe, den einen Gott der Liebe – derselbe gestern, heute und in alle Ewigkeit. Und so ist mir gesagt, was gut ist: Liebe üben (Micha 6, 8). Über die Definition von Liebe wird sich von Anbeginn bis zur Lieblosigkeit gestritten und auch das praktische Ausüben der Liebe kann zu größten Missverständnissen führen. Und doch: Als Freund des Wortspiels gefällt mir der Gedanke, die Liebe zu üben. Ja, ich will die Liebe üben – kleinschrittig, oder großspurig, wie es sich halt ergibt, an meinem Nächsten. Und an meinem inneren Schweinehund. Bevor er mir ans eigene Bein pinkelt, will ich ihm Hundekuchen geben, damit er mir gehorcht. Wenn die Menschen sich dann aufrichtig freuen und freiwillig bedanken und ich ihnen offenen Herzens mit einem „Gern geschehen“ begegnen kann, dann ist endgültig „Schluss mit aggro“.

Viele Grüße

Femke Zimmermann